Wenn der Körper zur Last wird
Adipositas (krankhaftes Übergewicht) wird – entgegen landläufiger Meinung – nicht durch mangelnde Disziplin verursacht, sondern ist eine ernst zu nehmende chronische Erkrankung. Die Betroffenen kämpfen oft jahrelang gegen die Kilos – und gegen Vorurteile. An der Filderklinik in Filderstadt-Bonlanden setzt ein interdisziplinäres Team auf einen multimodalen Therapieansatz. Das Besondere: Hier bekommen Menschen die Zeit und Unterstützung, die sie für ihren individuellen Weg benötigen.
Es sind oft die kleinen Dinge des Alltags, die für Menschen mit starkem Übergewicht zur Herausforderung werden: Eine Treppe steigen, in einen Kinosessel passen oder einfach nur einen Spaziergang machen. „Übergewicht kommt ja nicht einfach schlagartig“, erklärt Dr. med. Ute Gunzenhäuser, Oberärztin an der Filderklinik. „Es ist etwas, das sich über viele Jahre entwickelt hat – und entsprechend braucht auch der Weg heraus seine Zeit.“
Diese Erkenntnis ist zentral für das Behandlungskonzept des seit 1. April 2024 zertifizierten Adipositaszentrums im Haus. Hier werden die Betroffenen nicht gleich in Richtung Operation gedrängt, sondern zunächst umfassend beraten und begleitet. Denn Adipositas ist ein komplexes Zusammenspiel aus körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren. „Manchmal nutzen Menschen das Essen als Kompensationsmechanismus, um mit Stress, Trauer oder Einsamkeit umzugehen“, erläutert Dr. Gunzenhäuser. In anderen Fällen spielen hormonelle Störungen eine Rolle oder eine falsch eingestellte Diabetesmedikation.
Der Körper spielt nicht mit
Was viele nicht wissen: Ab einem gewissen Punkt entwickelt der Körper regelrecht ein Eigenleben. „Das Unterbewusstsein will dann etwas anderes als das Bewusstsein“, beschreibt die Viszeralchirurgin einen Teufelskreis, aus dem die Betroffenen ohne Hilfe kaum noch herauskommen. „Sehr interessant ist zum Beispiel, dass das Sättigungsgefühl bei übergewichtigen Menschen durch den ersten Teller nicht etwa zu-, sondern abnimmt. Sie bekommen also durch den ersten Teller mehr Hunger auf den zweiten.“
Vom Fragebogen zur OP:
Ein Weg mit vielen Schritten
Der erste Kontakt beginnt oft mit einem Anruf oder einer E-Mail. „Manche wissen genau, was sie wollen. Andere sind verloren und brauchen erstmal Orientierung“, beschreibt Gunzenhäuser die Bandbreite. Alle Interessierten durchlaufen eine gründliche Vorbereitung: Ernährungsprotokolle, psychologische Gutachten und Gespräche mit Endokrinologen klären, wo die Ursachen liegen – und ob eine OP wirklich die richtige Lösung ist. „Manchmal betreuen wir Patientinnen und Patienten zwei oder drei Jahre, bevor sie sich für oder gegen eine Operation entscheiden“, so Gunzenhäuser.
Ein Schlüsselmoment ist die Auswertung der Ernährungsgewohnheiten. „Da gibt es Protokolle, die einem die Augen öffnen: Schokobananen zum Frühstück, Fertigpizza mittags, Lasagne abends“, so die Chirurgin. „Manche schaffen es allein durch professionelle Beratung, ihre Ernährung umzustellen – dann braucht es keine OP.“ Doch für Menschen mit einem hohen Body-Mass-Index (BMI) und einem zum Beispiel durch Diabetes oder Bluthochdruck bereits geschwächten Körper, kann der chirurgische Eingriff lebensrettend sein.
Minimal-invasiv, maximal individuell: Die OP-Methoden
Entscheiden sich Betroffene für einen chirurgischen Eingriff, stehen verschiedene Verfahren zur Wahl. Beim „Schlauchmagen" wird ein Großteil des Magens dauerhaft entfernt, sodass nur noch eine schmale „Banane“ übrigbleibt. Eine Alternative ist der „Bypass“, bei dem eine kleine Magentasche gebildet und der Dünndarm umgeleitet wird. Ob Schlauchmagen oder Bypass – die Filderklinik setzt auf minimal-invasive Verfahren, die meist nur drei bis vier kleine Schnitte erfordern. „Heute operieren wir fast alles laparoskopisch. Das heißt, die Patienten stehen am nächsten Tag auf, die Narben sind kaum sichtbar“, betont Gunzenhäuser. Welches Verfahren gewählt wird, hängt von Begleiterkrankungen wie Sodbrennen oder Diabetes ab. Ein Schlauchmagen reduziert etwa die Nahrungsaufnahme, ein Bypass verändert die Verdauungsprozesse.
Doch die OP ist kein Allheilmittel. „Der Magen allein löst keine Probleme. Wer nach der Operation weiterhin ungesund isst, wird scheitern. Der eigentliche Wandel muss im Kopf und im Lebensstil stattfinden“, warnt Gunzenhäuser. Deshalb beginnt die eigentliche Arbeit nach dem Eingriff: lebenslange Nachsorge, Vitaminpräparate und regelmäßige Laborkontrollen. „Leider übernehmen die Krankenkassen diese Kosten oft nicht – dabei sind sie genauso wichtig wie die OP selbst.“
Heilung für Körper und Seele
Das Konzept der Filderklinik, das moderne High-Tech-Medizin um Maßnahmen der anthroposophischen Medizin ergänzt, ermöglicht dabei eine besondere Betreuung, die Nebenwirkungen abmildert und die Gesundung fördert. Am Abend nach der Operation erhalten die Patientinnen und Patienten spezielle Eukalyptus-Einreibungen zur besseren Durchlüftung der Lunge. Rosmarin-Fußeinreibungen beugen nicht nur Thrombosen vor, sondern schenken auch wohltuende Zuwendung. Bei Aufregung vor der Operation helfen Herzauflagen statt Beruhigungspillen.
Keine schnellen Lösungen
Die Filderklinik sieht sich dabei bewusst als Gegenpol zu manch fragwürdigen Angeboten. „In den sozialen Medien wird alles oft als Spaziergang dargestellt“, merkt Dr. Gunzenhäuser an. „Da gehen 18-, 19-jährige übergewichtige Mädchen in die Türkei und lassen sich einen Schlauchmagen operieren, um dann Modelfotos zu posten. Aber dafür sind diese Operationen nicht gedacht. Sie sind für Menschen mit krankhaftem Übergewicht, die gesund werden möchten.“
Auch die viel beworbenen Abnehm-Spritzen sieht die Expertin differenziert: „Sie machen etwa 10 Prozent Gewichtsabnahme möglich, aber nur solange man sie spritzt. Danach nimmt man meist wieder zu.“ Mit Kosten von etwa 300 Euro pro Monat sei diese Option zudem für viele nicht erschwinglich. „Eine Operation wird in Deutschland dagegen von den Krankenkassen übernommen – man muss sich nur auf den etwas längeren Weg einlassen.“
Ein Netzwerk der Unterstützung
Besonders stolz ist das Team auf sein Netzwerk von Ernährungsberaterinnen und -beratern. „Wir haben Menschen, die das online anbieten, andere arbeiten persönlich. Manche sehen es eher wissenschaftlich, andere haben einen mütterlicheren Ansatz mit Rezepten und Büchern“, beschreibt Gunzenhäuser. Sogar kulturelle Aspekte werden berücksichtigt: „Eine arabische Patientin sagte einmal zu mir: 'Was soll ich bei einer deutschen Ernährungsberaterin, die mir sagt, ich soll morgens Quark essen? Das ist nicht mein Essen.' Seitdem haben wir auch Ernährungsberaterinnen, die mit anderen kulturellen Ernährungsgewohnheiten vertraut sind.“
Diese Vielfalt an Unterstützungsangeboten macht die Filderklinik zu etwas Besonderem. „Dank der MAHLE-STIFTUNG haben wir den wirtschaftlichen Druck nicht ganz so stark wie andere Häuser“, räumt die Chirurgin ein. „Das gibt uns die Freiheit, auch mal einen Patienten drei Monate länger zu betreuen oder jemanden halbjährlich einzubestellen, nur um die Motivation aufrechtzuerhalten.“
Der Blick nach vorn
Besonders bemerkenswert ist die Rückmeldung der Patientinnen und Patienten nach erfolgreicher Behandlung: „Fast alle sagen, sie würden es wieder machen – aber früher“, berichtet Gunzenhäuser. „Es war nicht immer einfach, auch nach der Operation gab es Herausforderungen. Aber gemeinsam haben wir den Weg geschafft.“
Für die Zukunft wünscht sich das Team noch bessere Möglichkeiten zur Nachsorge. „Wenn Adipositas als Krankheit anerkannt ist, was sie ja ist, müssten auch die Folgebehandlungen wie Vitaminpräparate und Laborkontrollen von den Krankenkassen übernommen werden“, fordert die Chirurgin. „Jemand, der einen Skiunfall hat, bekommt ja schließlich auch die Physiotherapie bezahlt.“